Ernährungswende in Zeitlupe – warum Ernährungsstrategien in Deutschland so langsam vorankommen

Seit dem 4. November laufen im Wintersemester wieder jeden Dienstag die Ringvorlesungen der TU Osnabrück zum Thema „Nachhaltige Ernährungssysteme“. Als ich mich am 11. November in die Veranstaltung zu den Ernährungsstrategien der Bundesländer einlogge, frage ich mich erneut: Warum hat es in Deutschland so lange gedauert, Ernährungspolitik als systemkritische Aufgabe zu begreifen?.
Klar, Ernährung ist deshalb so herausfordernd, weil sie eine eng abgestimmte Zusammenarbeit aller Ressorts braucht. Und das war in Deutschland lange keine Selbstverständlichkeit. Auch heute gibt es noch Bundesländer, in denen wichtige Themen wie Ernährungsbildung oder regionale Versorgung in kleinen Referaten hängen bleiben – oftmals befristet, teilzeitbesetzt und ohne strukturelle Wirkungsmöglichkeiten.
Ein Blick nach Europa – und drei Bundesländer
Prof. Ulrike Arens-Azevedo, die ich für Ihre Arbeit aber auch für ihren unerschütterlichen Optimismus durch alle die Jahre sehr bewundere, eröffnet den Abend. Seit 1989 arbeitet sie unermüdlich daran, Verpflegung und Ernährungsbildung zusammenzubringen. Nach einem Überblick zur europäischen Farm-to-Fork-Strategie stellen Referent*innen aus Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen ihre Ernährungsstrategien vor.
Carola Persiel aus Niedersachsen betont:
„Die Organisation des Beteiligungsprozesses ist das A und O. Sie ist anstrengend, aber sie lohnt sich.“
Und Andrej Hänel aus Baden-Württemberg ergänzt im Gespräch später:
„Wir sollten nicht nur utilitaristisch auf die CO₂-Bilanz schauen, sondern den sozialen Aspekten des Essens einen ebenso hohen Stellenwert einräumen.“
Beides ist zentral. In einer Zeit populistischer Tendenzen brauchen wir werteorientierte Ernährungsstrategien, die Genuss, Bildung und gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.

Was der Ländervergleich zeigt
Beim Durchsehen der öffentlich zugänglichen Dokumente zu allen Bundesländern wird schnell klar: So unterschiedlich wie die DNA der Länder ist auch die Art, wie Ernährungsstrategien entstehen. Es scheint fast nicht möglich sie über ein Raster zu legen und systematisch miteinander zu vergleichen. Jedes Land hat sein eigenes Tempo, seine eigenen politischen Hürden, seine eigenen finanziellen Startbedingungen.
- Die finanzstarken Länder haben längst komplexe Beteiligungsprozesse durchlaufen.
- Dünn besiedelte Flächenländer mit sehr kleinen Verwaltungen ringen dagegen schon mit der Frage, wer die Sitzungen überhaupt vorbereiten soll.
Nicht aus Desinteresse – sondern aus strukturellen Gründen.
Doch genau hier verschärft sich die Lage: Probleme vervielfachen sich, wenn man ausgerechnet die Themen liegen lässt, die eigentlich Gemeinschaft stiften könnten.
Nachhaltigkeitsstrategien als erster Schritt
Eine Nachhaltigkeitsstrategie – die in allen Ländern existiert – ist oft der Auftakt Richtung Ernährungsstrategie. Auch wenn einzelne Strategien anschließend jahrelang in der Schublade liegen: Sie bieten eine inhaltliche Grundlage, auf die man sich später berufen kann, etwa bei Ernährungssicherheit, Biodiversität oder regionaler Wertschöpfung.
Wer die Lücken füllt: Verbände, Netzwerke, Ehrenamt
Wo staatliche Strukturen fehlen, springen oft Verbände ein – mit Projektmitteln und viel Ehrenamt: die DGE-Vernetzungsstellen, Bio- und Verbraucherschutzverbände.
Auch ich arbeite in einem dieser Verbände, dem Biodachverband Mecklenburg-Vorpommern. Aktuell unterstützen wir die Ministerien dabei, eine interministerielle Arbeitsgruppe Ernährung aufzubauen. Ein kleiner, aber wichtiger Schritt. Er wird allerdings nur funktionieren, wenn es ein klares politisches Mandat gibt und die beteiligten Personen tatsächlich Zeit haben, mitzugestalten.

Die drei Wege der Transformation
Nach der Veranstaltung schaue ich erneut in die im April veröffentlichte Studie „Strategien für mehr bioregionale Produkte in der Gemeinschaftsverpflegung“ (Universität Hohenheim / Ökonsult). Sie beschreibt drei strategische Wege und ordnet sie sehr praxisnah ein:
1. Einstieg über einzelne Komponenten
Der unkomplizierteste Weg: einzelne Produkte austauschen. Damit lassen sich Einsteigerquoten wie die Bronze-Medaille der AHV-Verordnung erfüllen. Mehr aber auch nicht.
2. Ganzheitliche Verpflegungskonzepte
Ein mittel- bis langfristiger Ansatz: ein ganzheitliches Verpflegungskonzept für Betriebe oder Modellregionen und feste Kooperationen mit regionalen Lieferanten.
Der Vorteil: Damit lassen sich auch zentralen Küchenprobleme adressieren – Personalmangel, mangelnde Motivation, Lebensmittelabfälle, Energiekosten.
3. Systemischer Wandel
Der anspruchsvollste, aber wirksamste Weg: partizipativ erarbeitete, integrale Strategien entlang ganzer Wertschöpfungsketten. Hier greifen alle Rädchen ineinander.
Genau diesen Weg beschreiten Bayern, Niedersachsen und Baden-Württemberg – mit Strukturen wie KerN (Bayern), ZEHN (Niedersachsen) und LerN (Baden-Würrtemberg), die genügend Personal haben, um Kantinen, Kommunen und Bildungsprojekte zu begleiten.
Bayern hat zusätzlich eine landesweite Kantinenverordnung geschaffen: Öffentliche Einrichtungen müssen mindestens 30 % regionale oder biozertifizierte Produkte einsetzen.
Ein starkes Instrument. Es erstaunt mich, dass andere Bundesländer diese Chance bislang kaum nutzen.
Warum dauert das alles so lange?
In der Abschlussrunde kam die Frage genau so auf den Tisch.
Prof. Arens-Azevedo formulierte einen Satz, der mich getroffen und beruhigt hat:
„Es ist eine Generationenaufgabe. Solche Prozesse dauern wirklich drei bis fünf Generationen.“
Transformation braucht Zeit, Strukturen, Personal und Menschen, die dranbleiben.
Und genau deshalb ist der Austausch in Netzwerken wie essen&ernähren so wichtig: Wir brauchen Beratungskräfte, die nicht nur Küchenprozesse optimieren, sondern komplexe politische und organisatorische Entwicklungen begleiten können.
Beratung muss künftig in der Lage sein, Kommunen durch Transformationsprozesse zu führen, Beteiligte an einen Tisch zu bringen und Konflikte zu moderieren.

Der nächste große Treiber: Die Ganztagsschule
Ein Punkt wird erstaunlich selten aktiv mitgedacht:
Der Ganztag mit einer verpflichtenden Mittagsverpflegung kommt.
Damit steigt die Nachfrage schlagartig, Küchen müssen umdenken, Kommunen müssen planen. Wer diesen Prozess „dem Markt“ überlassen will, wird scheitern. Gute Schulverpflegung ist kein Angebot-und-Nachfrage-Produkt – sie ist eine Frage politischer Verantwortung.
Es geht um gesunde Ernährungsumgebungen, regionale Lieferketten, wirtschaftliche Stabilität für Betriebe und um die Frage, wie wir Gemeinschaft gestalten. Denn wer heute keine Ernährungsstrategie entwickelt, bekommt morgen ein Infrastrukturproblem.
Was bleibt hängen? Eine Zusammenfassung für Küchen, Beratung & Kommunen
1. Ernährung ist systemrelevante Infrastruktur.
Leitplanken auf Landes- und Kommunalebene sichern Gesundheit und regionale Wirtschaft.
2. Strategien entstehen im Prozess.
Beteiligung ist kein „nice to have“, sondern die zentrale Gelingensbedingung.
3. Beratung wird zum Schlüssel.
Nicht nur fachlich, sondern prozessbegleitend und moderierend.
4. Ganztagsschule verändert alles.
Der Bedarf wächst – und damit die Verantwortung.
5. Transformation gelingt nur gemeinsam.
Politik, Küchen, Lieferanten und Bildung müssen an einem Tisch sitzen.
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Quellen:
Titelbild: Andrii Zastrozhnov von Getty Images Pro/Canva
Ringvorlesung/Hochschule Osnabrück